Bissige Bestandsaufnahme zum Brexit

Hält der Brexit, was er versprochen hat? In Hinblick auf Nettomigration, Lebenskosten und Zugang zu staatlichen Gesundheitsdiensten beantwortet ein TikTok-Video diese Frage mit einem Ja. Mit einem zutiefst sarkastischem Ja. 

Von Tana Badic und Max Hofstätter


Die Nettomigration (Immigration minus Emigration) sei von 100.000 bis 300.000 auf 750.000 im Jahr gesunken. Die Einwohner Großbritanniens könnten beobachten, wie Tag für Tag alles billiger werde. Sie wüssten nicht, was sie zuerst kaufen sollen. Die Wartelisten der National Health Services zählten statt 2 bis 4 nur mehr 7 bis 8 Millionen Plätze. Mit diesen sarkastischen Aussagen zerpflückt der im UK ansässige Finanzberater Darius Karpowicz auf seinem TikTok-Kanal mortgagedar die Auswirkungen des Brexit. Was steckt dahinter?



Der Immigrationsanstieg, seine Hintergründe und wie es weitergehen könnte

Die Beobachtung eines enormen Anstiegs der Nettomigration ist korrekt, nur die angegebenen Zahlen sind irreführend. Daten des britischen Office for National Statistics (ONS) zeigen eine Nettomigration von 745.000 für Year Ending (YE) December 2022. Also für die 12 Monate bis Dezember 2022. Aktuellere Daten liegen erst für YE June 2023 vor, die 12 Monate bis Juni 2023. Die Nettomigration wird hier mit 672.000 beziffert. Über weitere Trends lässt sich daraus noch nichts sicheres schließen. In jedem Fall war die Nettomigration die letzten beiden Jahre aber um mehr als das zwei- bis dreifache höher als vor dem Brexit. Dabei sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass die Daten des ONS Schätzungen sind.

Statista zufolge gab es wirklich eine Tendenz sinkender Nettomigration ab dem Entscheid des Brexit-Referendum im Juni 2016. Nachdem die Nettomigration 2020 aus offensichtlichen Gründen ihren Tiefpunkt erreicht hatte, verkehrte die Tendenz sich aber ab 2021 ins Gegenteil. Ein Faktor hinter dem scharfen Anstieg war die Ankunft von Flüchtlingen aus Hongkong und später auch der Ukraine. Auch abseits davon erlebt das Vereinigte Königreich aber einen riesigen Zustrom an Migration, vorrangig aus Nicht-EU-Staaten. Die Hauptfaktoren dahinter sind Arbeit und Bildung. Einerseits stellt das UK aufgrund von Personalmangel sehr viele Arbeitsvisas aus, andererseits genießt das britische Universitätssystem international immer noch einen sehr guten Ruf.

Laut einem Report der Universität von Oxford kann noch bis 2025 mit einem Anstieg der Nettomigration gerechnet werden. Danach sollte es aber wieder zu einem Abstieg kommen. Ein Anstieg der Immigration führe in der Regel zu einem um 2-3 Jahre versetzten Anstieg in der Emigration. Beispielsweise weil Immigranten, nachdem sie ihr Studium abgeschlossen haben, das Land wieder verlassen. Für 2030 wird eine Nettomigration von 350.000 erwartet. Ungefähr das Niveau von vor dem Brexit. 



Wirtschaftliche Belastungen in Großbritannien: Ursachen steigender Lebenshaltungskosten

In Großbritannien steht die gegenwärtige Generation vor noch nie dagewesenen Lebenshaltungskosten. Faktoren wie stark steigende globale Energiepreise, weit verbreitete Personalengpässe und eine Zunahme der Verbrauchernachfrage nach der Lockerung der Covid-Beschränkungen haben alle zu dieser wirtschaftlichen Belastung beigetragen. Doch dies sind nicht die einzigen Auslöser für die steigenden Preise im Vereinigten Königreich. Ein weiterer signifikanter Faktor, der insbesondere in Großbritannien eine Rolle spielt, sind Handelsbarrieren mit der EU, aufgrund des Brexits. Entgegen den Versprechungen, die zu Beginn des Brexits gemacht worden sind, sind die Preise in den letzten Jahren folglich nicht gesunken, sondern vielmehr angestiegen.

Der Think Tank UK in a Changing Europe (UKICE) veröffentlichte Mitte 2022 einen Bericht über den Stand der Importe nach dem Brexit, die Lieferketten und deren Auswirkungen auf die Verbraucherpreise. Der Bericht hebt hervor, dass die Preise für Lebensmittel aufgrund des Brexits zwischen Dezember 2019 und September 2021 um 6% gestiegen sind.

Die gestiegenen Preise sind auf verstärkte Grenzkontrollen, längere Wartezeiten und erhöhte bürokratische Anforderungen zurückzuführen, die den Produzenten zusätzliche Kosten verursachen. Insbesondere das Handelsabkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich (Trade and Cooperation Agreement, TCA) brachte neue Maßnahmen auf den britischen Handelsmarkt. Dazu gehören unter anderem umfassendere Zollkontrollen, Ursprungsnachweise, sowie Sanitär- und Pflanzenschutzmaßnahmen für den Handel mit Tieren und Pflanzen. Diese Maßnahmen bedeuten zusätzliche Kosten für britische Unternehmen, die Waren mit der EU handeln, da sie nun mehr Ressourcen für die Einhaltung der Vorschriften aufwenden und möglicherweise auch höhere Gebühren zahlen müssen. Die daraus resultierenden Kosten werden letztendlich auf die Verbraucher überwälzt, was zu höheren Preisen für die Produkte führt.

Mehr finanzielle Hilfe für den NHS (National Health Service) dank dem Brexit?

Während des EU-Referendums kam es zu Behauptungen, dass das Vereinigte Königreich wöchentlich £350 Millionen an die EU überweise und dieses Geld durch den Brexit für den NHS verwendet werden solle. Tatsächlich waren die Abgaben an die EU viel geringer. Es wurde zusätzlich voraus prognostiziert, dass der Brexit mehr Kosten verursachen würde als das, was an EU Abgaben gespart werden würde.

So war es letztendlich auch. Zwar ist tatsächlich der NHS-Haushalt (allein in England) seit 2016 um mehr als £350 Millionen pro Woche gestiegen, jedoch hatte dieser Anstieg des Haushalts nichts mit der Umleitung von Einsparungen durch den EU-Austritt zu tun. Die Ausgaben mussten aus Steuern, Kreditaufnahme und dem Ausquetschen finanzieller Ressourcen anderer Abteilungen stammen.

Obwohl dies wie eine erhebliche Finanzspritze erscheinen mag, ist der NHS-Haushalt so groß, dass dies tatsächlich weit von einer ungewöhnlichen Wachstumsrate entfernt ist und kaum mit einer wachsenden und alternden Bevölkerung Schritt halten kann. Die Institution bleibt weiterhin finanziell unter Druck. Es fällt vor allem auf, dass während eines Großteils dieses Zeitraums im Vergleich zu anderen Gesundheitssystemen weltweit auffallend wenig in Ausrüstungen und Gebäude investiert wurde.

Die Folgen des Brexits auf Wartezeiten und Fachkräftemangel im Gesundheitswesen

Eines der Versprechen der Brexit-Kampagne war die Aussicht auf kürzere Wartezeiten im Gesundheitswesen nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU. Doch die Realität sieht ernüchternd aus. Derzeit warten etwa 7,2 Millionen Menschen auf eine Behandlung durch den NHS - ein Rekordhoch. Gleichzeitig erreicht die Anzahl der Personen, die mehr als vier Stunden in den Notaufnahmen warten, ebenfalls den höchsten Stand aller Zeiten.

Zudem haben sich die Probleme des Personalmangels durch den Brexit verschärft. Seit dem EU-Referendum im Jahr 2016 ist die Anwerbung und Registrierung von EU-Personal in den Bereichen Medizin, Pflege und Sozialfürsorge zurückgegangen. Diese Entwicklung birgt das Risiko, bestehende Probleme wie den Mangel an Personalplanung, unattraktive Arbeitsbedingungen und den steigenden Bedarf an Personal weiter zu verschärfen.

Zwar hat die Gesamtzahl der Ärzte und Krankenschwestern durch eine rasche Zunahme der Rekrutierung aus dem Rest der Welt den Rückgang der EU-Arbeitskräfte kompensiert. Die Zahl der nicht-EU-Ärzte, die in Großbritannien zugelassen sind, ist seit dem Referendum von 72.000 auf 112.000 gestiegen, während die Zahl der nicht-EU-Krankenschwestern von 67.000 auf 124.000 gestiegen ist. Dennoch reicht dies nicht aus, um den anhaltenden Mangel an Pflegekräften auszugleichen, und kann keine angemessene Personalplanung ersetzen, um Personal im Inland zu gewinnen und zu halten.

Max Hofstätter

Max hat über einen nichtlinearen Bildungsweg schließlich im Journalismus seine Leidenschaft gefunden. Erste Redaktionserfahrung als freier Mitarbeiter beim niederländischen Online-Magazin SvJMedia gesammelt. Für das Ressort Arts, Culture & Lifestyle Storytelling unter anderem Reportagen in Bulgarien produziert. War Praktikant bei tag eins und ist inzwischen stolzer Praktikant bei Context. Schreibt neben Artikeln derzeit seine Bachelorarbeit im Studiengang Journalismus und Medienmanagement an der FH Wien der WKW.

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